Einleitung:

2019 wurde ich gebeten, für die Finanzierung eines Wandlitzer Vereines der Friedensbrücke e.V. einen Beitrag zu verfassen, der mein Leben in der DDR beschreibt. Die Erlöse für das Buch sollten direkt den Kriegsopfern im Donbass zugute kommen. Ich stimmte nach einem Moment der Überlegung zu, denn in der Vergangenheit zu graben und meine alten Tagebücher und Aufzeichnungen wieder zu sehen, hat schon einige emotionale Folgen…. alles ist ja mittlerweile teils über 40 Jahre her zum Zeitpunkt der Aufzeichnungen…

Alle Abschnitte sind entsprechend kurz gehalten, um den Lesefluss nicht allzu lang erscheinen zu lassen. Einige Passagen habe ich im Zuge des Blogs hier noch hinzu gefügt und redigiert. 

Ein allgemeines Lektorat fand nicht statt. Daher vorab ein großes Sorry!

Diese Arbeit wurde dann von Frau McClean schon in der ersten Auswahlphase abgelehnt, da sie erstens zuviele Bilder enthielt und zweitens ihren grundsätzlichen Anforderungen an einen Fließtext nicht genügte. Nun gut. Drei Monate Arbeit sollen aber nicht so ganz umsonst gewesen sein, daher hinterlasse ich sie hier auf meiner Blogseite in Abschnitten sortiert. Im Spendenbereich bitte ich natürlich weiter um eine Zuwendung für die Friedensbrücke, so, wie es Andrea Drescher bei meiner Zustimmung dazu eingangs andachte. 

Mir ist bewusst, dass manchem die Zeilen so nicht immer gefallen oder sie einer be.-und verurteilenden Bewertung anheim fallen, welche Außenstehenden gestattet sein mögen. An alles kann ich mich auch nicht mehr erinnern. Aber es war ja auch nur mein Leben… Wenns halt zu langweilig wird…

13.01.1988

Abb: Volker Voigt (2.v.links), Egon Krenz (2.v.rechts), Eberhard Aurich (rechts)

Volker Voigt (2. Sekretär des Zentralrates der FDJ) Mitschrift:

„Es leben in der DDR 8 Millionen Menschen, die durch die Lebensschule der FDJ gegangen sind.“

„Wie wissen, dass die Meinungen bei uns sehr differenziert sind und es kommt darauf an, im persönlichen Gespräch zu bestehen.“

„Von 160.000 Berliner FDJ´lern sind am 31.10.1987 zur Manifestation auf dem Leninplatz 28.000 gekommen und 5.000 bis 8.000 geblieben. Das ist die reale Kampfkraft der Berliner Jugendorganisation.“

„Der Sozialismus ist historisch in der Offensive. Und das merkt man auch an den Ausgaben des Westens für Ihre Medien, um genau das zu vertuschen.“

„Wo der Feind die Initiative hat, hat der Feind die Erstinformation.

Wo der ideologische Gegner Spekulationen anbietet, da herrscht er mit „seiner Meldung“ allein.“

„Wo der Gegner testen will, ob oder wie wir auf eine Meldung reagieren bzw. anspringen, da hält er die Finte.“

„Wo der Feind die Macht hat, da hat er den besseren Zugriff zur Information.“

„Die Aufgabe der Medien ist es, die Meinung der Herrschenden zur herrschenden Meinung zu machen.“

„In einer Revolution geht es nicht um Kopf und Kragen, sondern um Köpfe und Herzen.“

„Es ist gut, wenn die Jugendlichen Fragen stellen, würden keine gestellt, müssten wir uns welche stellen.“

„Zitat Westmedien:`Gott sei Dank, dass die Journalisten in Hamburg, Frankfurt/M. und München, anders als in Ostberlin, schreiben können, was sie wollen und was sie für richtig halten, auch wenn es falsch ist. Und das soll auch so bleiben.´“

(Anmerkung: Rückblickend und in Vergleich zu heute möge das mal jemand den Vertretern der Mainstreammedien mitteilen. Es ist schließlich das Gut, dass damals den Westen vom Osten unterschied.)

„Durch die Beeinflussung der Medien auf die Menschen hier wird das sozialistische Bewusstsein gestört.“

„Wichtig beim FDJ-Studienjahr (eine Art sozialistische Weiterbildung für die Mitglieder) ist ganz einfach, dass es stattfindet. Monatlich fallen bis zu 20.000 Zirkel aus.“

Egon Krenz (1.Sekretär des Zentralrates der FDJ) Mitschrift:

„Für Kinder muss man schreiben wie für Erwachsene, nur viel besser.“

„Das erste, was nach der Konterrevolution in Polen abgeschafft wurde, war das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium.“

„Wo im FDJ-Studienjahr weltanschauliche Flaute herrscht, da macht sich der Formalismus bemerkbar.“

„Bei einer Umfrage unter jungen Leuten, welche Band am besten gefällt, fand sich die erste DDR-Gruppe auf dem 11.Platz wieder.“

14.01.1988

Diskussion der Arbeitsgruppe „Rechtserziehung“ in der Kreisleitung Berlin-Hellersdorf:

„Der Westen hat alle Frequenzen unter der 100 Mhz-Grenze schon vor 10 Jahren beim Weltpostverein gekauft, so dass wir nur noch über der 100 Mhz-Grenze senden. Heute sind die Probleme mit dem RIAS-Fernsehen noch nicht abzusehen, wo „Rambo“ und „Die rote Flut“ gesendet würde, da es ja ein amerikanischer Sender ist. SAT1 wäre dagegen ein Waisenkind.“

25.01.1988

Partei-Mitgleiderversammlung W.Hauke: Zum Bauablauf in Hellersdorf: „Es wird noch in Größenordnung zu Auseinandersetzungen kommen.“

29.01.1988

Sekretariat der SED-Kreisleitung Berlin-Hellersdorf:

„In der ČSSR gibt es zuviel DDR-Mark. Sie wollen hier einkaufen, was wir nicht gewährleisten können. Daher erfolgte eine Festsetzung des Mindestumtauschsatzes.“ Das Netto- Einkommen in der DDR steigt kontinuierlich, das in der ČSSR sinkt ab.“

„In der BRD können nur 5% der Menschen unsere Sender empfangen.“

Brigitte Fischer (1.Sekretär der SED-Kreisleitung auf der Kreisparteiaktivtagung):

„Wer Glasnost will, erkennt nicht oder will nicht die objektive Realität in der Republik erkennen. …Nichtssagende und Nörgler nützen nichts. … Wer etwas für unsere Umwelt tun will (Anmerkung: zugeschnitten auf die „Umwelt-Bibliothek“ im Zionskirchumfeld), kann das an der frischen Luft tun und muss sich nicht in Kellern verstecken. … Die Situation in den Berliner Kirchen stellen eine gefährliche Belastung dar. … In den Kirchen gibt es keine „rechtsfreie Zone“, wir wollen keinen Bruch an der alles in allem guten Entwicklung.“

„Wer Qualität kaufen will, muss Qualität produzieren.“

„Die Rücknahme der Ausreiseanträge beträgt 21%.“

Februar 1988

Die Verständigung der Ausreise-Antragsteller erfolgt u.a. über ein „A“ an der Auto-Heckscheibe oder über einen Sticker mit Herz und Bundesadler. Blutstropfen zeigen die „Jahre des Wartens“ an.

Abb: 1988 wurden die ersten „Geldkarten“ für den elektronischen Zahlungsverkehr ausgegeben.

08.03.1988

Brigitte Fischer (1.Sekretär der SED-Kreisleitung Berlin Hellerdorf)

Stichpunkte aus der Rede:

„-Verstärkte Zusammenkünfte in Kirchen“

„-Kirche nur als Schutzschild, kirchliche Amtsträger haben inkonsequente Haltung.“

„-Zusammenwirken mit Antragstellern“

„-Kirchen fungieren nicht mehr als Kirchen, sondern als Agitationszentren“

„-an den Status der Kirche in unserem Staat erinnern“

„-für die Kirche hat der Staat in den letzte Jahren viel getan (Reisemöglichkeiten)“

„-Gegner versucht Kirche als Trojanisches Pferd zu benutzen“

„-Kirche in Dresden stellt Forderungen zur Einflussnahme in Militär und Volksbildung“

„-Die Kirche im Sozialismus wandelt sich gerade zur Kirche gegen den Sozialismus“

„-Zwischen Feinden, Mitläufern und Sympathisanten differenzieren.“

„-Auseinandersetzung in FDJ, Partei und Gewerkschaftskollektiven“

„-Volkszorn öffentlich dokumentieren in der Presse“

„-deutliches Ansteigen der Aggressivität der Ersuchenden“

„-Nachahmung westlicher Lebensweisen“

„-klarmachen, was am Ende jeder Verherrlichung steht… Mode-Sinn“

„-durch Aufenthaltsbeschränkungen den Schutz der Bürger garantieren“

„-Gerichtsverhandlungen sollen stärker im Fernsehen gezeigt werden.“

Beschlüsse:

Das Hausrecht in der Kirche wird gewahrt und geachtet.

Die rückläufigen Teilnahmen an den Mitgliederversammlungen, ausstehende Mitgliedsbeiträge, Nörgeleien, Ablehnungen von Parteiaufträgen sind schon Anzeichen für ein negatives Parteiverhältnis. Die Arbeit in den Gremien muss personenbezogener erfolgen. Die Erziehung muss verfassungsgemäß erfolgen.

Anmerkung: (Die DDR hatte ja im Gegenteil zur BRD eine vom Volke gewählte Verfassung, in der allerdings nicht die Selbstaufgabe geregelt war und auch nicht der Beitritt zu einer Nicht-Verfassung eines anderen Staates, was den „Einigungsvertrag“ 1990 ehedem ad absurdum hinterlässt).


Foto: Subotnik in Hellerdorf (Baumpflanzaktion mit sowjetischen Soldaten)

28.03.1988

In Berlin-Hellersdorf wurde wie folgt Zeitung gelesen:

„Neues Deutschland“ (freier Verkauf: 236 Exemplare; – Abo: 4.016 Exemplare)

„Berliner Zeitung“ (freier Verkauf: 2.196 Exemplare; – Abo: 14.337 Exemplare)

„Junge Welt“ (freier Verkauf: 243 Exemplare; – Abo: 3.858 Exemplare)

„Tribüne“ (freier Verkauf: 17 Exemplare; – Abo: 607 Exemplare)

Am 20.04.1988 gab es vier Verhaftungen von Jugendlichen, die in der Mehrzweckgaststätte (MZG) „Lion Feuchtwanger“ Hitlers Geburtstag feierten und anschließend singend und brüllend zum „Klabautermann“ (Gaststätte) zogen. Ein Bürger rief die Volkspolizei (VP) an. Marko R.: „Ich bin gegen Neger. Ich gehöre der Gruppe „Zyklon B“ an. Peter N. Ist der „Oberskin“ und sitzt in Haft.

25.04.1988

Auftrittsverbot im Stadtbezirk:

Karl-Heinz Bomberg (Liedermacher)

02.05.1988

Das Politbüro hat Maßnahmen zu Übersiedlungen beschlossen. Gegen Antragsteller haben ungesetzliche Maßnahmen auszubleiben. Vorherigen Verordnungen (aus dem Jahre 1977) sind außer Kraft.

09.05.1988

Parteiversammlung:

„In Sachen Menschenrechte ist eine gewisse Sättigung eingetreten. Das Recht auf Frieden, Arbeit und Bildung in Schule und bei der Berufswahl, die Gleichberechtigung und auf Wohnraum (es existieren 6,6 Millionen Wohnungen und 6,4 Millionen Haushalte) ist im wesentlichen verwirklicht und „selbstverständlich“. Anderen Punkten wird sich zugewandt, innerhalb des „Rechtes auf Reisen“ im Artikel 32 der Verfassung (freies Bewegen im eigenen Land). Freies Verlassen und Betreten anderer Länder bei dem der politische und ökonomische Schutz des eigenen Landes vorausgesetzt bleiben soll.“

„Erstmals ist eine Person Eigentümer, Produzent und Konsument. Warum produziert der Eigentümer etwas, was er nicht konsumieren will?“

26.05.1988

Bezirksparteiaktivtagung zur Jugendpolitik der SED:

Abb: Günter Schabowski (um 1985) als Nachfolger von Konrad Naumann

Günter Schabowski (1.Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin):

– Schaffung einer „Friedenspartnerschaft“ mit reaktionären Kreisen des Imperialismus

– Einrichtung eines geeigneten Spielortes für Open-Air-Konzerte in Berlin Hellersdorf

– Prüfung auf späteren Beginn von Theater und anderen Stätten (für junge Eltern)

Walter Sack (Kreiskommission der Antifa Berlin-Treptow): „Wir sind die Sozialismusmacher“.

Eberhard Aurich (1.Sekretär des FDJ-Zentralrates):

„Keine Genügsamkeit, wo Kämpfertum gefragt ist, darf einziehen.“

Friedenswoche der Berliner Jugend:

16.06.1988 ein Konzert gegen Apartheid

18.06.1988 Theaterveranstaltung (Infos folgen)

19.06.1988 Veranstaltung für einen atomwaffenfreien Korridor

Bruch:

Der Sommer bescherte mir neuerliche Denunziationen, Kränkungen auf der Parteikreisebene, in der Auswertung eines Sommerlagers für polnische Kinder im Stadtbezirk und entsprechende Fallen, die meine Integrität in Frage stellen mussten.

Zudem empfand ich das System, wie es war, tatsächlich als nicht mehr reformierbar, da es ja nicht mal mehr selbst vertraute.

Junge Pflanzen wurden bei einer gewissen Reife geköpft. Ein Nachwachsen war ausgeschlossen. Ich verließ mit einem (für mich damals) Paukenschlag diese gesellschaftliche Verantwortungsebene mit einem sogenannten „Abberufungsantrag“. Meine Vermutung war, dass ich nun komplett durch das „Raster“ fallen würde und wieder auf der Baustelle (etwa als Maurer) meine normale Arbeit machen kann. Irgendwo…

Es wäre in Ordnung gewesen.

29.06.1988

Foto: der Auszug aus meiner Abberufungserklärung, welcher mir besonders übel angerechnet worden war

Wie nicht anders zu erwarten, wurde sowas intern geregelt. Vier – fünf Stellungnahmen und Aussprachen folgten, um für die Genossen sicherzustellen, dass ich nicht etwa vom Klassenfeind gelenkt wurde. Im Ernst! Sie haben nichts verstanden. Es wurden kleine Tribunale durchgeführt, in denen sich alle öffentlich von mir distanzieren durften, ja mussten. Ich bekam ein politisches Redeverbot und wurde der Bezirksleitung „zurückgegeben“. Mir blieb die Wahl zwischen einem Rädchen in der Abteilung Großveranstaltungen (eine Art Abstellgleis des Verbandes) und der von der Staatsmacht bekämpften Opposition, die es 1988 ja auch schon gab, die mir personell aber unbekannt war. Mir fielen sogar Dokumente meines Vorgesetzten in die Hände, die mich ziemlich eindeutig definierten. Niemals würde ich in diesem System noch eine Chance bekommen, die ja ehedem keiner wirklich hatte der nicht schon 50 Jahre Parteimitglied war…

Bilder: Stellungnahme des 1.Sekretärs der FDJ Hellersdorf an die Kaderkommission der Bezirksleitung und den 2.Bezirkssekretär Berlins

Privat gerade erstmalig Vater geworden, entschied ich mich für den Schutz meiner kleinen Familie und gegen irgendeinen wie auch immer gearteten Widerstand, den ich damals für tatsächlich sinnlos hielt. Auch kannte ich kaum eine Struktur für gesellschaftliche Kritik. Die Kirche fiel bei mir jedenfalls raus. Ich war also quasi passiv korrumpiert. Andere nennen es Feigheit oder Opportunismus, aber es erfuhr ja niemand. Gut, damit musste ich leben, aber ich wollte mich nie wieder von Systemen oder fremden Interessen verheizen lassen.

In der DDR wurde man ja nicht wirklich gewählt oder von einer Basis-Gruppe delegiert, sondern von einer höheren Instanz geschult, auf Planstellen gesetzt, berufen. Auf der Delegiertenkonferenzen jeweiliger Organe dann proforma durch Handzeichen bestätigt. Niemand kannte mich und doch gaben sie mir quasi ihr „Vertrauen“. Blind. So sollte es auch bleiben.

So „wählen“ wir ja auch heute unsere ausgewählten Auserwählten, unsere Verwalter.


Abbildung:
Wahlfunktionen waren Planstellen.

September 1988:

Ernst Röhl (Satiriker):

„Es treffen sich beim Tanzen zwei reizende Bilanzen. Da schwärmt die erste frei heraus: ‚Sie seh`n heut aber blendend aus!‘ Worauf die zweite konstatiert: ‚Kein Wunder – gerade frisch frisiert.‘“

29.08.1988:

Sekretariatssitzung FDJ-Kreisleitung Hellersdorf – Vertrauliche Information aus dem Sekretariat der SED-Kreisleitung –

Die Lage in der ČSSR ist im Griff

In Polen spitzt sie sich zu. Wir richten uns auf eine Zeit ein, in der Polen „ohne Sozialismus“ sein wird.

„Polen wird solidarisch zur Seite gestanden, aber nicht um jeden Preis.“

Jeder Genosse soll seine Meinung finden

„Die DDR ist keine Insel“.

„Gegner versucht, findet und schafft Ansatzpunkte für Angriffe“.

Die Lage wirkt sich auf die DDR aus (Steinkohleimport sinkt, Hafenfrage, E-Motoren)

Die Lage in den Nachbarländern hat jedoch keine Signalwirkung auf die DDR (???)

Tagtäglich ist das politische Gespräch zu suchen und sind „Stimmungen und Meinungen“ mitzuteilen.

DDR-Genossen sollen sich schützen vor unbedachten Versprechungen und lieber Unwissenheit vorschieben.

„Für die Partei und den politischen Funktionären muss klar sein, wer die Macht hat, hat auch die Verantwortung.“

Ausreiseantragsteller Erkennbarkeit: weißes und schwarzes Fähnchen an Autoantenne, „A“ an rechter Heckscheibe.

September 1988:

Seit diesem Monat durfte ich an keinen internen politischen Versammlungen mehr teilnehmen und wurde aus der Öffentlichkeit entfernt.

Es ist die Spaltung, die in allen (!) administrativen Gesellschaften als Mittel der Macht funktioniert. In der sozialistischen DDR begann diese ganz unten in der Hierarchie. Zwischen Erzieher und Kind. Zwischen dem Nicht-FDJ-Mitglied und dem FDJ-Mitglied, FDJ-Sekretär und dem FDJ-Mitglied, dem Kreissekretär und dem FDJ-Sekretär, dem Zentralratssekretär und dem Bezirkssekretär, dem Politbüromitglied und dem Zentralkomitee.

Jede Ebene schottete sich von der ihr nachfolgenden ab und bemühte sich allein durch seine Gegenwart eine übergeordnete Existenzberechtigung zu vermitteln. Dabei war es auch egal, was am Ende herauskam, wenn die Statistik nach außen stimmte, die regulären Mitgliederversammlungen stattfanden, der Automatismus kein Eingreifen von oben nötig machte. Die Statistiken wurden nicht überprüft, aber sie hatten Macht. Die Macht, in Ruhe gelassen zu werden.

18.10.1988

Kadergespräch beim 2. Sekretär der FDJ-Bezirksleitung Berlin – Jürgen Pröhl – Mitschrift

– Einsatz in Abteilung Veranstaltungen, zunächst bis zum Pfingsttreffen 1989

– Anschließend erneut ein Kadergespräch

– Wahrscheinliche Alternativen (Inneres mit Studium, Jugendtourist, Jugendclubtätigkeit, Bezirksleitungsmitarbeiter, Kreissekretär nicht ausgeschlossen)

– Mein Einwand gegen die gegenwärtige „Arbeit“: „Es ist eine große Umstellung von einer Funktion mit viel Verantwortung, Zeitaufwand, Fingerspitzengefühl zu einer Arbeit, bei der ich fast nur rumsitze, da ich nicht gefordert bin. Ich bitte nochmals um Vertrauen und die Übergabe einer verantwortungsvollen Aufgabe.“

07.10.1988

Mit meinem Wechsel in die Abt. Großveranstaltungen verlagerte ich mein „politisches Leben“ zwangsweise ins Theoretische. Es finden sich hier bis zum Ende der DDR diverse Tagebuchaufzeichnungen in drei A5 Büchern, woraus hier einige Passagen oder manchmal auch nur kleinste Texte wiedergegeben werden, welche die Stimmung im nachfolgenden Jahr spiegelt…

Es soll einen neuen PKW „Trabant“ (20.000,00 Mark) und einen neuen „Wartburg“ (31.000,00 Mark) geben.

„Wie will man das kommunizieren? Das ist keine vernünftige Politik! Das ist technologische Armut, verbunden mit einem ideologischen Drama von Sturheit.“

Es soll 1984 den Versuch einer Selbstverbrennung auf dem Roten Platz in Moskau gegeben haben. Hier wurde das jedoch nicht polemisiert.

Abschriften in der Zeitschrift „Sozialismus Theorie und Praxis“ (10/88):

„Menschen, in Resolutionen wie in Decken eingewickelt, schlafen friedlich und ruhig und glauben, die Organisation zu führen.“ (Alexander Kossarew – erschossen am 23.02.1939)

„Das Schlimmste wird eintreten, wenn Jugendliche nicht nur an uns älteren Menschen, sondern an sich selbst keine Fragen mehr stellen werden.“

„Bei unseren inneren Diskussionen kann es zwar Gegner, darf es aber keine Feinde geben.“

„Die Wahrheit kann nicht davon abhängen, für wen sie dienen soll.“ (Lenin)

24.10.1988:

Helmut Meier (1. Sekretär der FDJ-Bezirksleitung) vor den Sekretären der Grundorganisationen:

„Wenn Papier nichts bewegt, sollte es vielleicht auch nicht bewegt werden.

Wer zuviel gegen etwas ist, kann nicht immer formulieren, wofür er eigentlich ist.

Wir gehören nun mal zu den 10 führenden Nationen der Welt, auch wenn wir keinen Audi zustande kriegen… Es tut sich bei so manchen neidisch auf volle Schaufenster des Westens bei unserer `Leistungskraft`.

Es gibt in der sozialistischen Gesellschaft manchmal mehr trennendes als gemeinsames.

Wenn man denn sagt, dass jeder auf anderen Wegen zum Sozialismus gelangt, so heißt das doch auch, unter anderen Bedingungen.“

1988. 41 KW

John Browne (britischer konservativer Parlamentarier)

„…Wir halten Herrn Gorbatschow für den ersten führenden sowjetischen Politiker, der, um den strategischen Frieden zwischen den Supermächten aufrecht zu erhalten, Diplomatie betreibt und keine prahlerischen Erklärungen braucht. Er schlägt westlichen Politikern, die sich seit langem an Frieden durch Abschreckung gewöhnt haben, Frieden durch Freundschaft vor…“

24.10.1988:

Michael Gorbatschow im Spiegel-Interview:

Frage: „Glauben Sie, dass in 5 oder 10 Jahren immer noch ein sogenannter antifaschistischer Schutzwall durch Deutschland verläuft? Oder schafft die Entspannung in Mitteleuropa Bedingungen, unter denen so eine Mauer eines schönen Tages entbehrlich ist?

Antwort: „Lassen Sie uns das „europäische Haus“ errichten, darin leben und sehen, was daraus wird. Ich würde jetzt gerade diesem Aspekt mehr Aufmerksamkeit schenken und mich nicht Zukunftsträumen hingeben, über die zu reden noch zu früh ist. Aber ich bin Optimist. … Mir scheint, die Europäer haben erkannt, dass sie fest miteinander verbunden sind…“

06.11.1988:

„Habe heute Informationen bekommen, dass nun auch neben der „Neuen Zeit“ (Moskauer Hefte für Politik – Hefte 1, 2 und 3 am Anfang des Jahres) nun auch der Sputnik 10/88 wegen eines kritischen Stalin-Artikels von der DDR-Zensur eingestampft worden war. Feiges Pack!“

Über die Vergangenheit zu diskutieren war in der DDR solange gefördert, wie man die kommunistische deutsche Arbeiterbewegung im gewünschten Lichte bestehen lässt. Sind aber gegenteilige Artikel vorliegend, wendet sich die Aufmerksamkeit sofort in aggressives Kontern bis hin zum Schreddern ganzer publizistischer Editionen. Grundlagen-Diskussionen waren unter allen Umständen zu vermeiden. Chancen im Gespräch zu bleiben wurden von den Partizipatoren der stalinschen Nomenklatur noch 40 Jahre nach ihrer Installation verschenkt, die nachwachsende Jugend weiter in unnötigen Lügen zurück gelassen.

In dieser Zeit versuchte ich alles an deutschsprachiger ausländischer Presse zu erwischen, was möglich war. Die „Budapester Rundschau“, die „Neue Zeit“, den „Sputnik“, Hefte zur Politik, ausgelegt im „Haus der sowjetischen Wissenschaften und Kultur“ (HdsWK) usw.,…

Wäre die fällige Diskussion einfach geführt worden, bräuchte es die Recherchen in normal zugänglichen alternativen Quellen nicht.

Auch hier empfinde ich übrigens eindeutige Parallelen zum Heute. Wer führt denn die Diskussion um die Schuld der amerikanischen und britischen Eliten am Zerstörungswerk des 20. Jahrhunderts? Wer benennt denn den installierten Regimechange-Hitler als das was er wirklich war? Der Handlanger Roosevelts, zum Zwecke aufgebaut, um mit höchstmöglichen Gewinnen der Finanzwirtschaft aus Übersee die intakte und funktionierende Welt vorzubereiten, um sie sich zu unterwerfen. Die Sowjetunion zu zerstören sowie die Bodenschätze zu vereinnahmen. Also das, was wir heute sind.

19.11.1988

Auszug auf dem Tagebuch:

Der „Sputnik“ ist verboten. Meiner Meinung nach ist das unverhohlen der Höhepunkt der Feigheit vor der Diskussion. Endlich hatten wir eine Plattform, die reif genug war, dass Diskussionsmonopol und die Gemüter auf unsere Seite zu ziehen. Es erschienen sicherlich heiße Themen und vielleicht auch verworrene Meinungen oder Ansichten… Und wie ein getroffener Hund zieht die Führung der DDR den Schwanz ein. Der „Sputnik“ ist ein Digest der Sowjetpresse und keines der „Deutsch sowjetischen Freundschaft“… SAT1 und den RIAS hört und sieht heute schon fast jeder Genosse, inoffiziell… Die Diskussion um die eigene Vergangenheit überlassen wir nun also nicht mehr unseren Freunden, sondern dem Gegner. Wir halten uns also am besten ganz raus und heucheln weiter: „Es gibt keine Tabus mehr!“

28.11.1988

Auszug auf dem Tagebuch:

Es brodelt überall. … Demonstrationen in Transkaukasien und im Baltikum, ein zersplittertes Polen, … eine hochverschuldete ČSSR mit großen Problemen in der Führung, eine verwirrte Ungarische Volksrepublik mit Parteilosen im Parteiapparat, eine Volksrepublik Bulgarien mit einer Umgestaltung ohne Ziel und eine Sozialistische Republik Rumänien mit einer Besserung der Schuldabtragung auf Kosten der Bevölkerung. In der DDR sind die Investitionen, wie 1987, für 1989 nicht gesichert…“

30.11.1988

Auszug auf dem Tagebuch:

Mehr sowjetische Filme sind aus dem Kino-Programm gestrichen worden;

„Die Kommissarin“

„Es war im Sommer 53“

„Und morgen war Krieg“ usw.

Die Isolierung geht weiter.

1988 47 KW.

Zeitschrift „Neue Zeit“ (Seite 8)

„Der Nichtangriffspakt zwischen der UdSSR und Deutschland vom 23.August 1939 war, realistisch gesehen, unvermeidlich, obwohl die Frage, ob in unseren beiden Ländern wirklich alles getan wurde, um die herannahende Gefahr abzuwenden, einer gemeinsamen gründlichen Untersuchung bedarf. Bezüglich des damit verbundenen „Geheimprotokolls“ ist zu sagen, dass die Suche nach dem Original bislang ergebnislos verlief…

Was den Abschluss des Freundschaftsvertrages zwischen der UdSSR und (Hitler-)Deutschland, der einen Monat später am 28.September 1939, unterzeichnet wurde und die diesbezüglichen Äußerungen Molotows betrifft, sind wir der Ansicht, dass dies nicht nur ein politischer Fehler mit schwersten Folgen für uns, für andere Länder und für die kommunistische Bewegung war, sondern eine direkte und herausfordernde Abweichung vom Leninismus, eine Verletzung der Leninschen Prinzipien darstellte.“

05.12.1988

In der ČSSR soll es Schilder in den Geschäften geben: „Kein Verkauf an Bürger der DDR“

1988 49.KW.

Neues Gesetz zur „Ein.- und Ausreise in der Sowjetunion“

Auszug auf dem Tagebuch:

„In dem Entwurf heist es, dass jeder Sowjetbürger in jedes Land ohne irgendeine Einladung reisen kann. Dies kommt dem internationalen Pakt über politische und Bürgerrechte gleich (Artikel 12)… jedoch mit der Einschränkung aus Erwägungen der Staatssicherheit… eine Quarantänezeit von fünf Jahren.“

30.12.1988

„Neues Deutschland“ – Autopreise in Polen (umgerechnet)

Auswahl:

Polski-FIAT 126p = 22.914,00 Mark

Trabant Limousine = 23.704,00 Mark

Wartburg 353 = 55.309,00 Mark

Škoda 120L = 66.370,00 Mark

Lada Niva = 154.864,00 Mark

1 Liter Normalbenzin = 2,77 Mark

1 Liter Diesel = 2,05 Mark

30.12.1988

Auszug auf dem Tagebuch:

Gestern wurde in der Tagesschau gemeldet, dass Tschernenko“ und „Breshnew“ aus dem Sprachgebrauch ‚gestrichen‘ wurden… Sie stünden für Stagnation… (Ticker über Tass am 29.12.88) … kein Wort dazu im Osten. (halt gestrichen…,))

In der letzten Zeit taucht mehr und mehr der Name „Krolikowski“ auf. In der Presse auf der Titelseite, auf Plenen zu Kaderfragen usw. usf. …. Kolikowski wirkt souverän, sieht aber aus wie ein „Frosch mit Locke“. Wird er Honeckers Nachfolger im Mai 1990?